12. Kapitel

In diesem Kapitel möchte ich den inzwischen verstorbenen Krefelder Journalisten und Schriftsteller Hugo Rütter zu Wort kommen lassen, zunächst in einem Bericht, aus dem ich in einem früheren Kapitel schon einmal ein paar kleinere Abschnitte zitiert habe, während nunmehr die Erzählung ungekürzt folgt. Ich bitte aber, die teilweise Wiederholung zu entschuldigen. Und nun Hugo Rütters:


15 Kinder auf Cracauen.
Miniaturen aus einem verwunschenen Paradies.

Oft habe ich, wenn die Dämmerung schon hereingebrochen war, auf dem Straßenstück geweilt, das am Fuße einer sanften Bodenwelle eine Furche zwischen Leyenthal und Cracau bildet. Das Tageslicht war versunken, und nun schien es, als ob alle die nicht eben schönen Zutaten unverständlicher Zeitalter von den Mauern und Firsten weggelöscht sein. Die Urgestalt der beiden patrizischen Bauten, die man dort mit einem Blick umfassen kann, gewann ihr Recht zurück; zur Linken leuchtet pastellhaft das graziöse Luftschlösschen der von der Leyen und hatte alles fabrikliche abgestreift, und rechter Hand lugte zutraulich und wuchtig zugleich der Nachbar von Alters her herüber, der Stammsitz der von Beckerath - Haus Cracau, das der Volksmund der Überlieferung getreu "Cracauen" nennt.

Wie Sinnbilder zweier Welten nahmen sie sich aus, hüben eine überzüchtete und großartige, die in rokokohafter Manier mit Residenz- und Gottesgnadentumvorstellungen spielte, und drüben einer strengeren und bürgerlichen, die eher in Augsburg und Nürnberg als in Versailles oder in Duodezfürstentümern ihre Vorbilder fand.

An der Stelle, wo ich stand und von der mich ein schimpfender Kraftwagenlenker vertrieb, sind früher einmal die Gärten der beiden Besitztümer zusammengestoßen: "Bongert“ auf der einen, Park auf der anderen Seite. Es war für den nachsingenden nicht schwerer sich die lustwandelnden Kavaliere und Damen des niederrheinischen Rokokos vorzustellen, das hier einmal ins Behäbige spielend - die Blüte erlebt hatte. Anders erging es mir mit dem dunklen Gemäuer von Cracau. Eigentlich war es ja viel älter als das vornehme Gartenhaus.

So wie ich es erblickte, hatte es schon zum zweiten Mal fröhliche Urständ gefeiert. Lange bevor es von der Leyensche Manufakturen und Stadtschlösschen gab, hatten die nämlichen rotbraunen Ziegel in den Mauern der vielköpfigen Burg „Craikouwen“ gesteckt. Eines Tages war die ganze Herrlichkeit geschleift worden. Die Spitzhacke hatte gründlich gearbeitet. Aber die Steine waren noch lange nicht am Ende ihrer Tage angekommen. Dort zur Rechten zogen sie eine spöttische Grimasse, wenn gerade der Scheinwerfer eines Wagens darüber glitt, der erste Stein schien dem nächsten zuzuflüstern: "Warum kommt er nicht herein? Ich glaube er traut sich nicht. Dabei könnten wir in Sachen erzählen, ….Sachen von unserer zweiten Heimat hier im neuen Bau, …. von den 15 Kindern auf Krakau. Aber wer nicht will, der hat schon!"

So raunten die Ziegel. Es war ihr gutes Recht. Sie hatten ja alles selbst miterlebt. Die alten Krefelder aber hatten sich noch ganz andere Dinge ins Ohr gesagt. Bis in meine Jugendzeit hinein spukte sie in den Köpfen. Um die Wende des 15. Jahrhunderts waren die einstigen Türme als kriegerische Wahrzeichen über die Mauergrenze gestiegen, und ein Vierteljahrtausend später, genau genommen am 26. September 1678, klirrten zum ersten Mal die Stemmeisen der „Leyendecker“ und „Mürder“ in der Mauer Fugen. Wilhelm III von Oranien, nach dem die Königstraße ihren Namen trägt, hatte den Befehl gegeben, sie zu schleifen. Ein halbes Dutzend Moerser" Werkmeister "waren die Unternehmer, und die Krefelder beteiligten sich lediglich als Tagelöhner dabei. 250 Jahre sind für ein Ritternest kein gerade langes Leben, und weil sich auch keine eigentlichen Heldenlieder um das Haus spannten, so flüchtete sich die Fantasie des Volkes in die unterirdischen Gänge. Sie dichteten sich selbst die seltsamsten Verbindungen zusammen. Einer sollte vom Stadtkern nach Cracauen führen, ein anderer reichte sogar bis zum Linner Hochschloss, dass heutigen Tages unser Wahrzeichen ist, und im Leben der 15 Kinder spielten diese Maulwurfswege auch keine geringe Rolle. Nachgewiesen ist keiner; aber das macht nichts aus. Es genügte, dass irgendwo ein unterirdischer Stollen einige 20 Ellen lang ins Ungewisse lief, und schon entzündete sich abenteuerliches Denken und Trachten! Als ich jüngst Raimund von Beckeraths Hans Sachsisches Gedicht vom Crackauer „Ongerird’sche“ schmunzeln las, hab ich jene Jugend die alle ritterlichen Requisiten gleich bei der Hand hatte, nicht wenig darum beneidet.

Halt! Las ich es selbst? Nein, das stimmt nicht ganz! Er, der mitten im achten Lebensjahrzehnt unverwüstlich frohlaunige, heimatliche Dichter, saß mir in seinem Tuskulum gegenüber, in eben jenem Haus, auf das ich mir so lange keinen Vers hatte machen können, und sprudelte als wahrer Reim-Mund von Reimen und Geschichten. Die spöttischen Ziegel hatten mich also doch verführt. Aber ich kam nicht als "tumber Parzifal" der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, sondern als Besitzer einer Chronik, die mir ihr Herausgeber, der Krefeldische Ratsherr Oskar von Beckerath verehrt hatte. Manchen Abend hatte ich damit verbracht, den Lebensläufen und Schicksalswandlungen dieser großbürgerlichen Familie nachzuspüren. Erstaunliche Stadt, unser eigenwilliges, schablonenfeindliches Krefeld, das so vielerlei Sendungen im Blute trägt und ihnen diente, ehe sie ins allgemeine Bewusstsein drangen. Welch ein Idyll hatte sich mir offenbart, als ich im Geiste zum ersten Mal meinen Fuß über die Schwelle des Hauses Cracau setzte und mich von des greisen Chronisten Heinrich Leonhard von Beckerath Fabulierlust und Erzählerkunst in das vergangene Jahrhundert geleiten ließ.

Sein Bericht ist das Kernstück jenes Geschlechterbuches geworden, mit dem ich ausgerüstet war. Familiengeschichten sind große Mode bei uns. Dass Blut ein ganz besonderer Saft ist, weiß und fühlt heute ein ganzes Volk, und wenn 1000-seitige Romane im Auf und Ab einer Sippe durch die Jahrhunderte nachtasten, so geben Sie uns etwas, wonach wir verlangen. Solche Dichtungen haben ihre eigene Wirklichkeit, wie jede wahrhaftige Geistesschöpfung.

Hier aber trat mir "erlebtes Leben" in den Weg, und das Gemeinwesen in dem es gediehen war und in dem es vielfältig blühte, war Krefeld, das schon der „Alte Fritz“ nicht um das Komplimentes eines großen Herren willen sein "Kleinod" genannt hatte. Anderswo wäre die ganze Sippe verstädert und in der dritten Generation untergegangen. Die geheimnisvollen Kräfte indessen, die nun einmal unsere Stadt andere, lang sanierte und glücklichere Wege gehen ließen, als sie sonst Gang und Gäbe waren, bewahrten sie davor.

Mir schien es glückerheißend, dass den einzelnen Zweigen jener Cracauenschen Erinnerungen der Väter und Vorväter die notwendige "Landnahme" gezeitigt hatten, die Rückkehr ins Bauerntum, dem sonderbarerweise die Familie schon unverhältnismäßig früh entwachsen war.

Da saß ich nun endlich in dem behäbigen Konto des Hausherrn und plauderte mit den krefeldischsten Krefelder, dem Sänger und Wanderer, der mit Rucksack und Knotenstock allwöchentlich über die Wankumer Heide und um die Hinsbecker Seen pilgerte und der in seinen Mussestunden nicht bloß besinnlich-heitere und manchmal spitzbübische Sächelchen in unserer Mundart dichtet, sondern sich auch mit einheimischer Lautlehre und Grammatik abgibt. Wir gerieten vom Hundertsten ins Tausendste. Auf einmal waren wir beim Hafen angelangt und schon lag die Niederschrift einer regelrechten Revue von seiner Hand vor mir. Nanu? Vor bald 40 Jahren wurde sie aufgeführt. Wer erinnert sich heute noch daran, dass sie eigentlich schon alle Kniffe und Pfiffe vorweg nahm, auf die man sich im Berliner Metropoltheater und im Admiralspalast etwas zugute tat? Sogar expressionistischen Theatereskapaden kam sie zuvor. Warum? Es war sage und schreibe ein Film darin eingebaut, in dem die nämlichen Personen, die man eben noch im Rampenlicht der Einweihungsfeier erblickte: Webereibesitzer Notemann, Allerweltskünstler Müskes (Raimund von Beckerath und Hans Preußen, der Kapitän des Überseefahrers "Prinz Heinrich" seligen Angedenkens) und Mister William Prikken aus New York, mitsamt ihren Damen auf der damals noch ein bisschen zappelnden Leinwand erschienen.

Dann gehen wir durch das Haus, in dessen hohen Wänden die alten Festungssteine sozusagen ihr "Corneliusstift", ihren Ruhesitz haben und den Altersfrieden genießen. Zahllose Riedinger-Stiche hängen an den Wänden des langen Hausganges. Sie berichten von Paradies und wilder Jagd. Vor ungefähr einem Jahrhundert gab es das auch in diesen Räumen, deren gar nicht so viele sind, wie man angesichts der breiten Front annehmen sollte. Damals tobte eine wilde Jagd durch das Paradies, das jetzt nur noch in den Bildern von Adam durch das Paradies mit seinem apfel- heischenden Gespons versinnbildlicht wird. 15 von Beckeraths- Kinder bevölkerten die wenigen Zimmer und Mansarden, 15 Kinder und eine Unzahl von Klanten und Freundinnen erlebten auf den 11. Morgen des Gutes, die nun allzu sehr zugebaut sind, alle Romantik einer glücklichen Jugend.

Am Ende des langen, schmalen Ganges, der das Haus der Länge nach teilt, führten ein paar Treppenstufen nach oben. Ich bin überrascht. Wir betreten einen quer vorgelagerten Saal, der mich in manchem Betracht an das entzückende Gohligser Schlösschen in Leipzig erinnert. Er ist, wie ich aus der Chronik weiß, 100 Jahre jünger als die Räume, in denen ich vor dem weilte. 1830 wurde er mitsamt der großen Küche und dem Obergeschoss angebaut. Heute ist er wie ein angenehmes, wohnliches Museum. Alte Bauernmöbel, dunkel und glänzend, viel blitzendes Gerät, aristokratische Ahnenbilder von ehedem, Zeichnungen, Scherenschnitte, biedermeierliche Tüllgardinen an den vier Fenstern, von denen zwei Verandatüren geworden sind, ein Flügel, an dem einst Johannes Brahms gespielt hat, eine Nische über dem offenen Kamin mit einer mittelalterlichen Statue, und rechts daneben der echte Donatello: in seiner reichen Vielfalt offenbart das Gemach etwas vom Geist des Hauses und vom Wesen der Stadt, in der diese Dinge zusammenkamen.

Als die 15 Kinder auf Cracauen lebten, war der Saal noch nicht so üppig. Die Wände waren gekälkt, es gab noch kein Parkett, sondern Eichenbretter, hölzerne Bänke
"ohne Anstrich", ein paar Stühle, ein Bücherschrank und auf den vier Marmorkonsolen Gipsbüsten von Flatters. Das war die ganze Herrlichkeit. Aber in ihr blühte - der Ausdruck ist nicht zu hoch gegriffen - ein Familienleben von so seltener und glücklicher Prägung und zudem von so einmaliger Eigenart, dass einen der Gedanke daran nicht so leicht loslässt, wenn man seines Geistes Hauch verspürt hat.

Im Jahre 1813 verheiratete sich der Seidenfabrikant, -färber und –drucker Heinrich von Beckerath auf Cracau mit Katharina Charlotte von Beckerath, und zwei Jahre später ehelichte sein Bruder Gerhard deren Schwester Susanne. Zwei Geschwister-Ehepaare! Und beide wohnen zusammen im nämlichen Cracauer Haus. Und sie behalten diese Gemeinschaft auch noch bei, als in den wenigen Räumen 15 Kinder heranwachsen: acht Heinrich-Sprösslinge und sieben Gerhardische. Nicht genug damit, sie warfen sogar ihre Haushaltsführung in einen Topf und bekommen - man muss das schon einmal sagen - keinen jener sprichwörtlichen Kräche, die Bosheit und Unverstand unter Verwandten selbst dann noch gebührend zu rühmen wissen, wenn die einen im Allgäu, die anderen in Flensburg wohnen.

Die Zeiten sind nicht immer rosig. Auch die Sonne steht manchmal hinter den Wolken; aber dieses krefeldische Paradies, in dem sich zwei Blutströme und unzählige Temperamente, Charaktere, Begabungen und Eigenarten stündlich begegnen, wusste seine vollkommene Harmonie zu wahren. Hier war ein Gemeinschaftsleben auf das köstlichste verwirklicht worden.

So viele Kinderseligkeit wie in dem cracauenschen Gemäuer, in den üppig gedeihenden Obstgärten, in den fischreichen Teich- und Badelandschaften rings um die untergegangene Stadtburg in Flor und Gloria stand, findet man sonst nur in Märchenbüchern. Sogenannte reiche Leute waren das nicht, die ihrer Sippe diesen Garten Eden hegten und umfriedeten. Unruhiges Blut floss durch ihre Adern, abenteuerliche Neigungen bluteten darin, und es geschah immer wieder, dass sich der seltsame Rhythmus der von Beckeraths, die übrigens trotz aller Ahnenverbundenheit das Rätsel ihres Namens bis auf den heutigen Tag noch nicht gelöst haben, im Ablauf der Geschlechter bewahrheitete! Auf die genialischen Naturen folgte just zur rechten Zeit ein zusammenfassender, rückerobernder, neu schaffende Geist. Fragt man sich aber danach, was denn diese 15 Kinder damals getrieben haben so brauche ich niemanden auf die Chronik selbst zu verweisen, die so viel darüber weiß. Vielmehr sag ich ihm: denke, du seiest jung, wohntest in sagenhaften Rittermauern, hättest einen Schwimmtümpel vor der Tür, könntest fischen nach Herzenslust, verkriechst dich, wenn es Not tut, in den unterirdischen Gängen, klettertest in die höchsten Bäume, hättest jederzeit ein Dutzend Spielgefährten zur Hand - - - - naja, siehst du, sie haben das getan was Du dann auch tun würdest. Keiner von ihnen lebt mehr, sie müssten ja weit über 100 Jahre alt sein. Aber die Nachkommen der Geschwisterehepaare gehen heute über alle Welt verstreut, in die sechste Generation und wissen in ihrem Blut von diesem Glückseiland, das ebenso cracauisch wie krefeldisch war.

Ich aber stehe am Fenster des Saales und suche das Idyll, suche Teiche und Bäume und eine weite Landschaft, doch sehe ich nur Mauern, Zäune und Hinterhäuser. Sic transit gloria mundi! 1941

Nachschrift: zwei Jahre, nachdem Hugo Rütters die obigen Zeilen schrieb, verfiel Cracauen bei einem Luftangriff in Schutt und Asche! Ob es je noch ein drittes Mal "fröhliche Urständ" feiern wird? In der Erinnerung der Familie aber wird es ewig leben!

Aber ein Jahr später, am 24. Mai 1942 starb der letzte "Schlossherr von Cracauen" Raimund von Beckerath. Ein gütiges Geschick ließ ihn den Untergang seines geliebten Cracauen nicht mehr miterleben. Und wieder widmete Hugo Rütters dem Verstorbenen ein Gedenkblatt, das ich nun im Wortlaut folgen lassen möchte:

Einer von der Sonnenseite
Sinnend blicken wir auf die Seite der zweibändigen Familienchronik und suchen den Namen des feinsinnigen Geistes, in dessen weiträumigem, altväterlichen Arbeitsgemach im Cracauer Herrenhaus wir jüngst noch weilten.

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Franz Bruno Raimund von Beckerath

so lesen wir jetzt: in Firma Gebrüder von Beckerath, später in der eigenen Firma Raimund von Beckerath - und aus Cracau, geboren am 7. Mai 1866 zu Krefeld - und nun wird der Chronist dahinter setzen: gestorben am 24. Mai 1942.

Aber das ist kein Schlusspunkt. Ein Vermerk deutet an, dass Kinder in der vierten und Enkel in der fünften Generation seines Stammes Erben sind. Wir wünschen, auch seine Wesensart sei auf sie übergegangen, seine Heimatliebe, seine Ehrfurcht vor unserer Mundart, sein Wandersinn, seine Neigung zur Kunst, seine Erzählergabe, seine dichterische Heiterkeit, kurz und gut, alles das, was ihn zu einem Menschen von der Sonnenseite des Lebens machte.

Felix Zimmermanns unsterblicher "Pallieter", von denen so mancher Zug in ihm Gestalt geworden war, rühmt sich einmal er "melke" den Tag. Nicht vielen ist diese köstliche Mitgift zuteil geworden. Raimund von Beckerath aber trug ein solches Göttergeschenk in sich. Die äußeren Daten des Geschlechterbuchs ergänzen sich dahin, dass der quicklebendige Cracauer Junge (bei seinen Freunden "et Jöngke" genannt), wiewohl er nicht eben groß war, bei dem Garde-Dragonern in Berlin diente, später Reserveoffizier bei den Trierer Blauen Husaren wurde, in Zürich, Wien, Como und Paris seine Ausbildung im väterlichen Färbereigewerbe vollendete, zuhause und später bei Büschgens (jetzt TAG) tätig war, und sich im Jahre 1908 selbstständig machte. Im Weltkrieg (dem 1. Weltkrieg) gab er, eigentlich infolge eines Missverständnisses, ein kurzes 6-Wochen-Gastspiel in Wolhynien, worüber er, wie über alle Stufen seines gesegneten Erdenwallens reizend zu plaudern wusste.

Mundartliche Verse und Knitteldichtungen flossen ihm nur so aus der Feder. Wenn man sie heute liest, sieht man ihn förmlich mit dem linken Auge blinkern, wie er es gerne tat, zumal wenn er sachte und klüglich die sichere Pointe herauszuarbeiten im Begriffe stand.

Über das liebenswerte Gelegentliche hinaus, das er mit leichter Hand schuf, bleiben seine krefeldischen Sprachstudien und seine genauen, grammatikalischen Bemühungen, deren Urschrift unsere Stadtbücherei später auferstehen lassen wird, von Wert für alle Zeit. (Anmerkung: leider konnte sich diese Weissagung nicht mehr erfüllen, da alle Unterlagen, Manuskripte usw. den bald darauf einsetzenden feindlichen Bombenangriffen auf Krefeld zum Opfer fielen).

Das gilt auch für die vergriffene Sammlung "Wie das Volk spricht ", die vor über 20 Jahren bei Halfmann herauskam. Diese "Sprichwörter und Redensarten in Krefelder Mundart“, die er mit seinem Freund Eugen Vogelsang sammelte und ordnete, sind eine Fundgrube, die vor der Verschüttung durch eine Neuauflage bewahrt bleiben müsste. (Anmerkung: eine Neuauflage wird der Krefelder Schorpe-Verlag voraussichtlich Weihnachten 1966 herausbringen. Ursprünglich sollte sie zum 100. Geburtstag erscheinen, aber dazu war die Zeit zu knapp).

Von solcher Verbundenheit mit dem, was in unserer reinen Volkesseele lebt und webt, ist es kein weiter Weg zur Kunst. Abgesehen davon, dass er Niederrheinisches aus allen Sparten eifrig zusammentrug, war er eine Musikerseele von hohen Gnaden. Als führende Persönlichkeit im Singverein und in der Konzertgesellschaft, immer unterstützt von seiner ebenso musikalischen Frau Paula, geborene Zohlen, sah das Ehepaar im Laufe der Jahre zahlreiche Künstler unter ihrem behäbig freundlichen Cracauer Dach. Sie selbst sangen Schubert und Hugo Wolf. Johannes Brahms weilte so manches liebe Mal im hochgelegenen Saal, in dem so viele Hauskonzerte stattfanden. Hermann Abendroth ging bei ihnen ein und aus. Es war schon so, dass Alt-Krefelder Kultur in der Tat musikalisch bestimmt, an ihrem Herdfeuer eine Stätte gefunden hatte.

Die dritte Eigenschaft im Bunde seines Wesens war seine Wanderlust und -kunst. Er, der früher die Alpen und dann den Schwarzwald immer wieder durchstreift hatte, entwickelte sich schließlich zum Entdecker der Wankumer Heide.

Kein Pfad unserer mit Wundern heimlich durchsetzten Grenzmark war ihm fremd. Samstag für Samstag zog er los, mit Rucksack, Havelock und Knotenstock und mit dem Lodenhütchen, mit einer Knopflochklammer am obersten Westenknopf aufgehängt, durch Gewitter und Sturm, durch Schnee und Regen, durch lenzliche Milde und sommerliche Glut. Und während wir so dieses sonnenhellen, fröhlichen und kunstbegeisterten Menschenkindes gedenken, blüht - wie denn anders - eine Melodie in unseren Herzen auf. Karl Löwe ersann sie, und Fontane hat uns den Vers dazu geschrieben:

„Der ist in tiefster Seeletreue,
der die Heimat so liebt wie du …..

Lebe wohl, glücklicher Weltenwanderer, und zeige denen dort im Elysium, dass man nicht im alten Athen geboren zu sein braucht, um dennoch griechisches Maß und olympische Heiterkeit in vollem Akkord zusammen klingen zu lassen. In Krefeld geht es auch!
H. Rütters, 24. Mai 1942