Der Haupteingang zum Wohnhaus Cracauen war von der Cracauerstraße her und hatte die Nummer 39. Leider war in den Jahren 1904/05 das große Geschäftshaus der Firma Flaskamp Cracauen direkt vor die Nase gesetzt worden.
Durch das Tor in der Mitte des langgestreckten Gebäudes tritt der Besucher ein. Tagsüber steht das grün angestrichene Tor natürlich auf. Wenn es geschlossen ist, kann man in der Mitte ein Fußgängertörchen öffnen. Links am Torbogen ist eine Zugschelle, die eine laute Glocke jenseits des Torbaues in Tätigkeit setzt. Über dem Tor ist als Durchgang zwischen den Mansarden des Wohn-

und Büroteiles das „Portenzimmer“. Den Abschluss des Tortraktes bildet das Türmchen, über dem als Windfahne ein goldbronzierter Posaunenengel schwebt.

Die Haustüre an der rechten Seitenwand, wenn man das Tor durchschritten hatte, bestand aus braun gebeiztem Eichenholz. Rechts an der Mauer war ein kleiner Löwenkopf mit einem Ring im Maul, an dem man ziehen musste, worauf im Inneren eine sonore Glocke ertönte, die im ganzen Haus gehört wurde. Die eigentlichen Bewohner und auch die Freunde hingegen gingen zwei Schritte weiter und bogen rechts in den kleinen Hof, durch ein Spalier des „Pfeifenstrauches“ mit großen Blättern und farblich unscheinbaren, grün-blauen Blüten in Form eines Pfeifchens. Wir aber haben heute die Glocke gezogen und warten, bis uns die Haustüre aufgemacht wird.

Durch die Haustüre kommen wir erst in den Vorraum, in dem auf der Gegenseite zwei alte Truhen stehen. In der Mitte hängt an der Wand das auf Holz gemalte Ölbild des alten Schlosses Cracau vor seiner Zerstörung im spanischen Erbfolgekrieg. Auf der halben Treppe hängt ein im gleichen Stil gemaltes Bild des wieder aufgebauten Hauses, jedoch ohne den erst später angebauten Saal.

Der lange Flur führte vom Treppenhaus bis zu den vier Stufen zum Eingang in den Saal, der später angebaut worden war und als einziger Raum unterkellert war. Links die erste Tür führte ins Herrenzimmer, später zeitweilig Büro, dann Wohnzimmer. Die zweite Tür führte über einen kleinen Flur zum Hof, die dritte Tür zur Küche (siehe Planskizze).

Bevor wir nun zum Saal hinaufgehen, werfen wir erst einen kleinen Blick in die Küche. Vor der Tür liegt schnurrend die Cracauer Hauskatze. Rechts ist wie ein Verschlag in die Küche hinein gebaut der Eingang zum Keller, der unter den Saal führt. Unter der Terrasse ist der Keller mit langen Regalen versehen, auf denen Äpfel und Birnen liegen, die Ernte aus dem Cracauer Garten. Ein Gasherd und ein Kohleherd folgen, und vor den Fenstern steht der Küchentisch mit dem Ledersofa.

In der Fensterfront lief von links, wo das Spülbecken war, die Anrichte mit vielen Schubladen und Fächern. Neben dem Spülbecken an der linken Wand war die Tür zum kleinen Flur, der auf den Hof hinausführte. Durch die Fenster sah man auf die Remise, über der Hermann Passen, der Cracauer Schmied, mit Familie wohnte. Zwischen Küche und Remise steht der Birnbaum, der heute noch erhalten ist und jedes Jahr herrlich blüht. Der Küchenschrank in der Küche war von Mutter Paula in ihrer Brautzeit mit Brandmalerei verziert worden.

Nun aber steigen wir die Stufen zum Saal empor und treten durch die zweiflügelige, weißlackierte Tür in den etwa 6 x 10 m großen Saal, an dessen mit orangefarbenen Rupfen bespannten Wänden die von Beckerath’schen Ahnenbilder hängen. Zwei große Fenster, die den Blick über die mit amerikanischem Weinlaub bewachsene Terrasse in den Park freigeben, erhellen den Raum, der außerdem noch Licht von der Glasveranda erhält, zu der an der Westseite zwei Türen führen.
Ein Grotrian-Steinweg Flügel zeugt von der Musikalität der Familie und manche Hauskonzerte fanden hier zu allen Zeiten statt. Brahms hat hier einst gespielt und Robert Schumann. Meine Großeltern und vor allem auch meine Eltern hatten stets ein offenes Haus für Künstler. Bekannte Dirigenten wie Prof. Müller-Reuter, Prof. Abendroth, Dr. Rudolf Siegel, Richard Wetz und andere waren oft in Cracauen.
Viele Familienfeste fanden hier statt: Hochzeiten, Taufen und auch Totenfeiern. Immer gab der Saal den festlichen Rahmen und die Ahnen schauten hierbei aus ihren Bilderrahmen zu.

Jeden Abend, wenn die Arbeit getan war, stieg mein Vater die Stufen zum Saal empor, schlug den Flügel auf und griff in die Tasten, um sich selbst zu begleiten, wenn er mit seinem Tenor Schubert, Wolff oder Löwe sang. Wenn er mit Mutter abends ins Theater ging, wurde die Oper aus dem Klavierauszug gespielt und sich so schon musikalisch auf den Genuss vorbereitet. Tenorarien sang Vater stets vom Blatt. Beide Eltern waren im Vorstand der Konzertgesellschaft und des Singvereins zu Krefeld. Im Sommer wurden die Veranda und die Terrasse viel benutzt. Kaffeeschlachten und Stütchen-Wettessen fanden hier statt. Nach dieser kleinen Abschweifung kehren wir wieder in den Saal zurück. Neben den Bildern der Vorfahren enthält der große Raum noch manche wertvolle Kunstgegenstände, die zum Teil aus der bekannten Sammlung Adolf von Beckerath, Berlin, stammen.

Adolf war ein Junggeselle, der jüngste Bruder meines Großvaters Johannes, und hatte in Berlin eine Rohseiden-Großhandlung gegründet. Häufige Einkaufsreisen nach Italien hatten ihn zu einem Liebhaber und Kenner alt-italienischer Kunstgegenstände gemacht. Seine Majolika-Sammlung und de la Robbias waren weltbekannt. Als er Ende 1915 hochbetagt starb, hinterließ er seine Sammlung vier Erben, von denen einer mein Vater war. Es fand eine große Versteigerung in dem bekannten Kunstauktionshaus Lepke in Berlin statt, die 2 Mio. Goldmark erbrachte. Auch das Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museum ersteigerte wertvolle Fayencen und Möbel und richtete hiermit ein „Adolf von Beckerath“-Zimmer ein. Viele Sachen erwarb auch mein Vater, die dann im Saal untergebracht wurden. Dass diese dann später alle im Bombenhagel des zweiten Weltkrieges untergingen, war unser persönliches Pech. Eine Entschädigung hierfür haben wie nie erhalten.
Der Saal war dadurch in den Jahren 1916 – 1943 in ein Museum verwandelt. Auch die vielen Riedinger-Kupferstiche von der Erschaffung der Welt bis zur Vertreibung aus dem Paradies stammten von Onkel Adolf. Ostern 1915 war ich noch von ihm nach Berlin eingeladen worden und hatte daher das Glück, seine ganze Sammlung kennen zu lernen.
Wir wollen uns inzwischen weiter im Hause umsehen. Vom Saal die Stufen wieder herunter kommen wir durch die zweite Tür rechts in den kleinen Flur zum Hof. Ein großer Fliegenschrank hängt in dem Flur, in dem Würste aufbewahrt werden.

Links führt die Türe in das „Stübbchen“, das ursprünglich als Lager eingerichtet war, später im Rahmen der Modernisierung die Heizung beherbergte. Ein offener Durchgang führte zu drei kleinen Räumchen: rechts Waschraum, Mitte: das WC und links die Besenkammer. Später werden wir dann nach draußen auf den Hof gehen.

Wenden wir uns jetzt den beiden Zimmern rechts des langen Flures. Sie haben im Laufe der Jahre, in denen meine Eltern in Cracauen wohnten, verschiedentlich ihre Verwendung gewechselt. In meiner Jugend war das Zimmer mit dem Eingang gegenüber der Küche unser Kinderspielzimmer. In späteren Jahren wurde es Wohnzimmer und ab 1924 Büro. Als Büro ist es oben abgebildet. Typisch war der in der rechten Ecke stehende Strangbock, an dem normalerweise Musterstränge in Schappe, Seide oder Kunstseide geteilt wurden. Sonst spießte Vater Raimund seine „Röllchen“, oder „Manchetten“ genannt, dort auf, da sie ihn beim Schreiben hinderten.

In der Mitte zwischen Vater Raimund und meinem Pult stand der Geldschrank, der nach der Zerstörung ausgegraben wurde und in dem wir die ganze Buchhaltung und Mutters Familienschmuck fast unversehrt wieder auffanden.

Durch eine breite Mitteltür kam man in das Esszimmer mit vielen alten Bildern – die alle verbrannten – und einem großen Spiegel, der das Zimmer größer erscheinen ließ. Auch dieses Zimmer wurde später mit der Vergrößerung der Firma mit als Büro verwandt. Hier saßen dann unsere Stenotypistinnen.

Auch das Zimmer links des Flures, mit drei Fenstern zum Hof hinaus, hatte im Laufe der Jahre verschiedene Funktionen. Ursprünglich war es das Jagdzimmer, dann Herrenzimmer, zwischendurch einige Male Büro und später dann Wohn- und Esszimmer. Zuletzt, nach dem Tode Vater Raimunds im Mai 1942 hatte Mutter Paula dort ihr „gemütliches Eckchen“ neben dem Fenster mit dem großen Thermometer. Eine besondere Eigenart des Zimmers war die geschnitzte Eichenpaneele ringsum.


Das Obergeschoß war nur über dem Tor (Porten-zimmer) und über dem Saal ausgebaut.
Sonst bestand es nur aus einer Reihe von Mansardenzimmern mit einer schrägen Wand zum Fenster.
Das Treppenhaus führte in drei Abschnitten nach oben. Auf dem ersten Absatz stand eine alte Standuhr, die die Stunden mit lautem Glockenschlag ankündigte. In runden Goldrahmen hingen Abbil-dungen von Werken Thor-waldsens.

Das Portenzimmer wurde als Fremdenzimmer benutzt. Das sogenannte „Hinterportenzimmer“, das schon über den Büros lag, war ein Krankenzimmer mit vielen Schränken und Körben.

Über Küche, Stübbchen, Toiletten und Wohnzimmer war ein flaches Dach mit zwei Oberlichtern für den kleinen Flur und das fensterlose Stübbchen, das später dann die Heizung beherbergte. Das flache Dach musste alle zwei Jahre frisch geteert werden.

Hier vom Flachdach, das man durch ein Fenster des oberen Flurs betreten konnte, war man dem Türmchen über dem Tor mit dem vergoldeten Posaunenengel fast zum Greifen nahe gerückt. Die vielen Schornsteine stammten natürlich aus der Zeit, wo in jedem Zimmer ein Ofen gestochert werden musste. Das im Vordergrund zu sehende Oberlicht, gab dem „Stübbchen“ das nötige Tageslicht.

Zur anderen Seite hin hatte man den alten Birnbaum vor sich, der im Frühjahr seine stark und herb duftenden Blüten in greifbare Nähe rückte.

Eine besondere Erinnerung an diesen Birnbaum sei hier eingeschaltet: Am 2. August 1914 brach plötzlich um die Mittagszeit ein schwerer, dicht mit fast ausgewachsenen Birnen erschwerter, großer, starker Ast mit lautem Getöse ab. Zur gleichen Zeit, als der 1. Weltkrieg ausbrach. Ein Omen ?

Heute, nach 52 Jahren sind alle Gebäude rings um den Baum zerstört und eingeebnet – während der Baum immer noch lebt.

Gegenüber war die Remise und darüber die Wohnung der Familie Passen. Hierüber gibt es noch ein besonderes Kapitel.

Über den Garten im Hintergrund taucht das „Hohe Haus“ auf, bewohnt von der Familie Heinrich von Beckerath, der dem Fürsten Bismarck so glich. Seine Frau Helene wurde von uns „Tante Ninn“ genannt.

Der obere Flur hatte die gleiche Länge wie der untere Flur und endete wie dieser an den Stufen, die zu den beiden Zimmern über dem Saal führten. Vorher aber hatte der Flur zwischen den beiden letzten Mansardenzimmern eine Art „Zwischenrahmen“, wo in der schrägen Wand ein Ausguss mit Wasserleitung angebracht war.

Die beiden oberen Schlafzimmer hatten keinen Wasseranschluss, und auf den Waschtischen standen irdene Waschschüsseln mit „Kampetten“, die täglich frisch mit Wasser gefüllt wurden.
Erst in den 30er Jahren wurden auch moderne Waschtische mit fließendem Wasser eingebaut.

Das rechte Zimmer war das Elternschlafzimmer während im linken Zimmer mein Bruder Rudi und ich schliefen.


Hier lag ich auch 1919, als ich einen schweren Rückfall des mir im Felde zugezogenen Gelenkrheumatismus hatte.
Eines Tages, als unser Hausarzt Sanitätsrat Dr. Settgast wieder nach mir sah, hatte ich gerade vorher Besuch von einigen jungen Mädchen gehabt.
Dr. Settgast schrieb darauf ein Rezept: „Täglich 2 x Besuch von hübschen, jungen Damen!“ und empfahl meiner Mutter, dafür zu sorgen, dass das Rezept strikt erfüllt würde.

Zwischen den beiden Schlafzimmer war eine große, zweiflügelige Tür.
Ein Ofen stand im linken Zimmer, während das lange Ofenrohr durch die Wand ins andere Zimmer ging.

Große Leinenschränke standen noch im Kinderschlafzimmer und innen waren an den einzelnen Fächern von Mutter Paula als Braut gestickte Spruchbänder: „Getrocknet im kühlen Winde, gebleicht auf grüner Au, liegt still es jetzt im Spinde als Stolz der deutschen Frau!“


Später bekam ich als Lern- und Schlafzimmer das Mansarden-Doppelzimmer, das zwischen dem Elternschlafzimmer und dem Badezimmer lag.

Ich durfte es mir nach meinem Geschmack einrichten, und da damals auf Cracauen nur Gaslicht war, installierte ich mir eine elektrische Beleuchtung mit Akkumulatoren-Batterie.

Eine Lampe am Eingang, eine kleine Pultlampe und eine Leselampe am Bett.

Lästig war es nur, dass ich die Akkumulatoren alle 8 Tage zum Aufladen wegbringen musste, so dass ich mich dann 24 – 48 Stunden mit Kerzen behelfen musste. An den Wänden hingen „eigene Werke“ in Öl, Aquarell und Federzeichnungen.


Dann folgte das alte Badezimmer, in dem zuerst eine Zinkbadewanne stand, die aber bald durch eine emaillierte ersetzt wurde.

Ein „Vaillant Geysir“ Gasbadeofen tat viele Jahre seine Dienste, bis er eines Tages, als jemand vom Gang aus den Wasserhahn zudrehte, in die Luft flog.

Gott sei Dank waren die Eltern gegen solche Schäden versichert. Wer den Wasserhahn aber zugedreht hat, ist nie herausgekommen.
Der Chronist aber war es nicht!

In dem letzten Kämmerchen vor der Treppe schlief Hilda.
Hilda war bei meiner Geburt als Kinderfräulein angestellt worden.

Sie war ein Waisenkind und kam vom evangelischen Waisenhaus in Kaiserswerth, wo sie dann später 1964 hochbetagt verschied. Hilda gehört also auch zu den Bewohnern Cracauens, und sie behielt ihr Leben lang Cracauen ihre Anhänglichkeit.


Als letztes Zimmer sei das „Portenzimmer“ über dem Tor erwähnt, das als Fremdenzimmer eingerichtet war.
Viele prominente Künstler, vor allem Sänger und Sängerinnen haben hier übernachtet.
Meine Eltern, beide im Vorstand der Konzertvereins und des Singvereins boten den zu den Konzerten engagierten Künstlern immer Quartier bei ihnen an.
Damals waren auch die Künstler noch nicht so verwöhnt wie heute! Manche Hortensien oder gar groß gewordene Fliederbüsche im Garten zeugten von der Dankbarkeit unserer Gäste.

Als aber nach dem verlorenen 1. Weltkrieg ein belgischer Offizier mit seiner Dulcinea (sieh hatten zusammen nur eine Zahnbürste) dort einquartiert waren, protestierte die Cracauer Katze dagegen, indem sie, die sonst absolut stubenrein war, den Belgiern in die Betten ……! Worauf die Belgier beleidigt auszogen und nie wiederkehrten.