3. Kapitel


Nachdem wir nun das Wohnhaus von außen und innen kennen gelernt haben, wollen wir uns auf den Höfen und in den Nebengebäuden umsehen.

Da wäre also zunächst der „kleine“ Hof mit dem alten Birnbaum. Überall, wohin man blickte, sind malerische Ecken und man weiß nicht, womit man anfangen soll. Bleiben wir daher beim alten Birnbaum, der als einziges übrig gebliebenes Wahrzeichen noch heute steht.

Drehen wir uns nun um 180°, so haben wir links die Hoftüre zum kleinen Flur. Es folgen die drei kleinen Fenster der Toilettenräume, dann drei Fenster zum Wohnzimmer und das Fenster zum Eingang. Am Haus wachsen Glycinen hoch und am Ende der Pfeifenstrauch. Ein Ilexbaum und ein Ahornbaum bilden den Abschluss, und dann geht es nach rechts, wo erst die Graveurwerkstatt von Max Passen ist.


Die Remise beherbergte ursprünglich den Jagdwagen und das Coupé meiner Großeltern. Zur Zeit, als wir nach Cracauen zogen, wurde sie von Passens als Waschküche benutzt, auch wenn Kappes oder Stielmus in die „Tonn“ eingemacht wurden, spielte sich dies in der Remise ab. Das Wasser der Pumpe war viel besser als das Leitungswasser. Wenn meine Mutter „Kränzchen“ hatte, wurden Kaffee oder Tee grundsätzlich mit Pumpenwasser aufgeschüttet.

Passens hatten eine uralte Waschfrau, die wie die Hexe aus „Hänsel und Gretel „ aussah.
Wenn ich im Winter in die Remise ging, ertönte aus den Dampfschwaden hinter dem Waschfass ihre Stimme wie eine verrostete Wetterfahne: „Mack die Döör tu – et treckt!“

Geht man durch die Remise, so ist vor dem Tor zum großen Hof links der ehemalige Pferdestall, in dem es immer noch nach Pferden roch. Er enthielt drei Stände mit Raufen. Eine zweite Tür zu einem weiteren Raum war meist zugeschlossen. Er muss früher Vorräte an Hafer und Stroh enthalten haben.

Gleich außerhalb dieser Remise ist links ein altmodisches Klöchen der Familie Passen, das auch von den anderen Mietern der den Hof umschließenden Gebäude benutzt wurde. Es hatte natürlich keinen Kanalanschluss und die „Mistkull“ wurde alle vier Wochen vom Bauer Kühnen mittels seiner „Drietkanon“ entleert

Hermann Passens Schmiede lag in einem idyllischen Eckchen des großen Fabrikhofes, eingeengt zwischen der Remise und der Auto-Reparaturwerkstätte von Paul Wackwitz, wo es immer so herrlich nach Benzin roch – bis eines Tages das Lieferauto des Kaufhauses Leonhard Tietz, das sich gerade dort in Reparatur befand, explodierte und damit auch die ganze Werkstätte abbrannte.

Die Feuerwehr erntete von den hinter dem Gebäude stehenden Birnbäumen die fix und fertig am Baum gebratenen Birnen.

Vor der Remise, dem Pferdestall und der ehemaligen Farbküche, wo dann der Böttchermeister Winters seine Werkstätte hatte, war ein weit vorspringendes Schutzdach, unter immer einige Wagen standen.

Zur Schmiede ging es ein paar Stufen vom Hof aus herunter.

Sie war schmal und langgestreckt.
Gleich vor dem Eingang stand ein großer Amboss, an dem immer ein schwerer Vorschlaghammer lehnte.
Dahinter war ein Schmiedefeuer, von einem mächtigen Blasebalg mit Luft versorgt, an dem zu ziehen als Kind meine höchste Wonne war.

Hier brachte Hermann die zum Schmieden bestimmten Eisenstäbe, aus denen Hufeisen gemacht wurden, zur Weißglut.
Auf dem Amboss wurde dann das glühende Eisen behämmert, dass die Funken weithin flogen.

Im Hintergrund stand eine Bohrmaschine, die von Hand angetrieben werden musste.

Nachdem wir 1903 in Cracauen eingezogen waren, wurde die Färberei Gebr. von Beckerath liquidiert und von der Färberei G. Büschgens & Sohn übernommen. Nur die Winderei blieb noch einige Jahre in Betrieb. Sie wurde von einem altmodisch anmutenden Deutzer Gasmotor angetrieben, der jeden Tag von Hermann Passen angelassen wurde, in dem er

das große Schwungrad mit der Hand in Umdrehungen brachte, bis das Gas zündete und der Motor mit einem erst etwas müden pft-pft-pft seine Abgase nach draußen abgab. Das Geräusch begleitete unsere Spiele, die oft in der äußersten Ecke des Hofes stattfanden, wo ein herrlicher alter Fliederbaum – so nannten wir fälschlich den Holunderbaum – zum Klettern gerade zu aufforderte.

Eines Tages jedoch zog eine Schar von Abbrucharbeitern in den Hof, kletterten von innen in den alten Schornstein der Färberei hinauf und begannen, den Schornstein von oben herab abzubrechen. Er musste vor der Sprengung von 48 m auf 40 m verkürzt werden.

Es sollte von der Cracauerstraße eine neue Querverbindung zur Bogenstraße gelegt werden. Hierzu musste das Kesselhaus samt dem Schornstein abgebrochen werden.

Als nun die Arbeiter damit begonnen hatten, den Schornstein zuerst um 8 m zu kürzen, stand ich natürlich unten davor und rief hinauf, ob man von oben eine schöne Aussicht habe.
„Seeker dat“, riefen die Männer herab, „man kann von hier aus sehen, wat in Köln die Butter kost!“

Das hätte ich zu gerne auch einmal gesehen und da am nächsten Tag Sonntag war, schlich ich mich an die Abbruchstelle und fand den Eingang zum Schornstein. Ohne daran zu denken, dass ich meinen neuen, weißen Matrosenanzug an hatte, kroch ich kurz entschlossen hinein. Es war finster dort, und die Wände waren dick voll von Ruß. Ganz oben hoch sah ich in dem kreisrunden Loch den Himmel. Dann entdeckte ich eiserne Sprossen, die in etwa 30 – 40 cm Abstand im Inneren des Schornsteins hoch führten. Sie dienten zum Ersteigen des Turmes.

Soll ich oder soll ich nicht? Nein, feige wollte ich nicht sein! Und so kletterte ich von Sprosse zu Sprosse immer höher. Da plötzlich stellte ich fest, nachdem ich fast oben war, dass eine Sprosse fehlte. Sollte ich nicht doch lieber umkehren ? Aber nein, das kam nicht in Frage.

Ein Klimmzug und ich stand wieder fest und konnte bis oben klettern. Der Wind wehte nicht schlecht und ich hatte das Gefühl, als schwanke der Schornstein. Aber die Aussicht auf die Stadt war schon die Angst und die Anstrengung wert! Allerdings, bis Köln konnte man nicht sehen, geschweige denn, was dort die Butter kostete!.

Die Sache hatte für mich noch ein unrühmliches Nachspiel. Als ich glücklich wieder unten angekommen war, entdeckte ich, dass mein neuer Sonntagsanzug total verschmutzt war und ich konnte nicht leugnen, dass ich durch den Schornstein geklettert war. Zur Strafe durfte ich am Nachmittag nicht mit in den Zirkus, der auf Sprödental gastierte – obwohl wie Freikarten dafür hatten, weil im Cracauer Garten große Reklameschilder vom Zirkus aufgestellt waren.

Als die Eltern mit meinem Bruder Rudi, der hämisch grinste, zum Zirkus abmarschiert waren, suchte ich Trost bei Hermann Passen, dem ich mein Abenteuer erzählte.

„Dummer Jung“, meinte er, „heute am Sonntag konntest Du sowieso nicht sehen, wat in Köln die Butter kostet, wo doch alle Jeschäfte jeschlossen sind!“.

Aber trotz der harten Strafe freut es mich heute in der Erinnerung, das Abenteuer bestanden zu haben. Wer hatte außer mir schon damals Krefeld aus der Vogelschau gesehen?

Heute, wo man täglich in vielen Flugzeugen die Stadt überfliegt, ist das etwas anderes. Aber damals gab es noch keine Flugzeuge, oder doch nur ganz wenige. Höchstens im Freiballon konnte man einen ähnlichen Blick haben.
Aber wer flog schon mit einem Freiballon.? Unser Onkel Paul Kayser war in seinem Ballon über der Zuidersee (Holland) abgestürzt und dabei umgekommen. Ich war aber ohne eine Schramme, nur mit einem verschmutzten Anzug wieder auf die Erde zurückgekommen.

Später, als die neue Straße „Am hohen Haus“ fertig war, zog in die alte Färberei die Maschinenfabrik von Josef Sauer ein. Vorher hatte die Herde- und Ofengroßhandlung Sprickmann-Kerkeringk die Räume als Lager benutzt. Familie Sauer benutzte die ehemaligen Büros als Wohnung. Ich komme später noch näher auf die ganze Familie zurück.

Hoffront von Cracauen. Hermann Passen fährt eine reparierte „Oovespiep“ zu einem Kunden, dem er kurz vorher erklärte: „Van Dag kann ech ne-it!“
Linker Hand vom Tor war ein kleines Zimmer, an dessen Außenwand die große Torglocke hing, die gezogen wurde, wenn abends oder an Feier- und Sonntagen das Tor geschlossen war. Links um das Zimmer herum war der Eingang zum früheren Betriebsbüro der Färberei, dann zum Büro der Forma Sprickmann-Kerkeringk und später zur Wohnung der Familie Sauer. Zuletzt war es der Eingang zur Elektron-Gesellschaft Dassel & Co. Rechts von der Tür, die selbst zu einem Vorraum mit Oberlicht führte, war ein Lagerraum, über dem in früheren Jahren die Trockenkammer der Färberei war.

Unten auf dem Bild war diese bereits abgerissen. Ich erinnere mich aber noch, daß oben zwischen den zwei Fenstern der „Drüchkammer“ ein Eberkopf angebracht war.