5. Kapitel

Der letzte Schlossherr von Cracau, Raimund von Beckerath, wurde am 7. Mai 1866 als letzter Sohn Johann Jacobs und Louise geboren, sozusagen als Nachkömmling. Seine älteste Schwester Marie war bereits 17 Jahre alt und verlobte sich bereits kurze Zeit danach mit Gustav Friedrich Maximilian von Weiler (Onkel Max). Sie hat selbst später dem Chronisten erzählt, daß sie als junge Braut den Auftrag hatte, ihren kleinen Bruder Raimund, von allen Geschwistern „et Jöngken“ genannt – ein Name, der auch später noch viel von Vaters Freunden gebraucht wurde – zu beaufsichtigen, wenn er im Garten spielte.

Eines Tages kam unerwartet ihr Bräutigam Max zu Besuch, und et Jöngken war hierbei ausgesprochen lästig. Kurz entschlossen wurde „Klein-Raimündchen“ an einen Baum gebunden, und Marie konnte mit Max hinter dem Fliederwäldchen verschwinden.

Als Raimund 5 Jahre alt war – im Jahre 1871 - wurde er von seinem Vater zum ersten Mal mit auf die Reise genommen. Die Fahrt ging nach Koblenz, und auf der Feste Ehrenbreitstein durfte er die dort untergebrachten französischen Offiziere, die im Krieg gefangen genommen wurden, sehen. Hieran konnte er sich später noch gut erinnern.

Vater Raimund war nicht nur der letzte Schlossherr schlechthin, nein, er ist mit Cracauen so eng verbunden, dass eine Chronik seines Lebens einfach mit dazu gehört, wenn über Cracauen berichtet wird. Die Geschwister Johannes Jacobs waren nicht in die Färberei Gebr. von Beckerath eingetreten, und nach dem Tode Onkel Heinrichs im Jahre 1873 (er erreichte ein Alter von 90 Jahren) war Großvater Johannes der alleinige Inhaber der Färberei. So wuchs Vater Raimund in dem Gedanken auf, später einmal die Leitung zu übernehmen.

Im Jahre 1872 kam er in die Vorschule des städtischen Gymnasiums in Krefeld, wo ihm Herr Lehrer Märker die Geheimnisse des Einmaleins und des Alphabets beibrachte (auch der Chronist, der im Jahre 1905 zur Schule kam, wurde dabei Schüler des Herrn Märker, der dann aber Ende 1905 starb). Später war er in verschiedenen Schulen und kam nach dem „Einjährigen“ als Lehrling in eine Färberei und besuchte die Färbereischule in Krefeld. Die Lehrzeit führte ihn auch ins Ausland nach Wien (Österreich), Zürich (Schweiz) und Paris. Da er aber im humanistischen Gymnasium Latein und Griechisch gelernt hatte neben englisch als einziger „lebender“ Fremdsprache, musste er in Paris erst einmal französisch lernen. Das war in den ersten Wochen nicht ganz einfach. Wenn er in einem Restaurant zu Mittag essen wollte, bestellte er sich immer „lapin“ (Kaninchen), was seine spätere Abneigung gegen dieses harmlose Nagetier verursachte.

Während der Chronist gerade diese Zeilen schrieb, flatterte ihm eine alte Fotografie auf den Schreibtisch: Cracauen im Schnee vom Garten aus. Das obige Bild entstand nach diesem Foto, und ich bitte, das Bild auf Seite 8 noch einmal hiergegen zu betrachten, das ohne Fotovorlage rein aus dem Gedächtnis entstand. Der Kamin steht darauf an anderer Stelle, während er laut Foto vorn am Dach über der eingemauerten Kanonenkugel steht. Das hat seine Richtigkeit: Das Foto stammt aus dem Jahre 1894, wo im Saal zwischen den Fenstern ein Kaminfeuer war. Später wurde der Kamin zugemauert und der Ofen im Schlafzimmer bekam höher am Dach seinen Schornstein.

Nach dieser Abschweifung zurück zum letzten Schlossherrn:

Sein Freiwilligenjahr diente er trotz seiner kaum die Mittelgröße überschreitende Figur in Berlin bei der Garde, und zwar beim 2. Garde-Dragoner-Regiment in Neukölln, das damals noch Rixdorf hieß. Die späteren Reserve-Offiziers-Übungen hingegen macht er bei der Trierer blauen Husaren. Ich erinnere mich noch gut daran, wenn er in Krefeld zu Offiziers-Vereins-Festen oder am 27. Januar zur Kaiser’s Geburtstagsparade seine schmucke blaue Husaren-Uniform anzog mit Dolman und Pelzkappe und rasselndem Schleppsäbel. Das war schon in der Zeit, ehe im Jahre 1906 der Kaiser das westfälische Husaren-Regiment Nr. 11 (grüne Husaren) nach Krefeld brachte.

Diese Husaren bekamen den Beinamen „Tanzhusaren“ wozu unsere Cousine Elly von Weiler (Tochter von Tante Marie und Onkel Max) den Anlass gegeben haben soll.

Und das soll so gekommen sein:
Als im Jahre 1902 der Kaiser zum ersten Mal in Krefeld war, begrüßten ihn eine Anzahl Ehrenjungfrauen, worunter auch Cousine Elly war. Der Kaiser betrachtete die hübschen Mädchen, schmunzelte und fragte sie nach einem Wunsch. Hierauf hatte Elly den Mut, laut zu sagen: „Wir haben hier so wenig Tänzer, Majestät!“ Und so kamen dann 1906 die „Tanzhusaren“ nach Krefeld.


Das war damals eine Aufregung in der Seidenstadt! Der Einzug Sr. Majestät kam vom Sprödental, wo ein Extrabahnhof für den kaiserlichen Hofzug gebaut worden war. Das Husarenregiment war am frühen Morgen schon von seinem bisherigen Standort Düsseldorf nach Krefeld geritten. Vater Raimund hatte in dem noch nicht bebauten Teil unseres Gartens an der Uerdinger Straße im Kiefernwäldchen eine Tribüne aufbauen lassen, die in den schwarz-gelben Krefelder Farben erstrahlte.
Hier stand die Familie mit vielen Freunden des Hauses, um den Kaiser, der an der Spitze der Husaren über die Uerdinger Straße nach Krefeld einritt, mit Hurra-Gebrüll zu begrüßen.

Der Krefelder Schriftsteller Otto Brues, Sohn des alten Freundes meines Vaters, des Chefredakteurs der Krefelder Zeitung, Ernst Brues, hat diesen Einzug des Kaisers in seinem Roman „Der Silberkelch“ ausführlich beschrieben, sodass sich hier eine Wiederholung erübrigt. Doch der Wahrheit die Ehre: In dem Roman wird anschließend der Kaiser auf Cracauen empfangen. Mein Vater, in dem Roman „der alte Krayenkamp“ genannt, soll sich sehr darum bemüht haben. Ich versichere aber, dass dies eine freie dichterische Erfindung ist!

Wir waren mit der Zeit ein wenig vorausgeeilt, deshalb bitte ich die freundliche Leserin oder den Leser, die Zeituhr noch einmal zurück zu schrauben. Raimund war nach den Lehrjahren und seiner Militärdienstzeit Teilhaber der Färberei Gebr. von Beckerath geworden und heiratete an seinem dreißigsten Geburtstag, am 7. Mai 1896 meine Mutter Paula, Tochter des Gerbereibesitzers Emil Zohlen und seiner Frau Maria geb. Pastor. Das junge Paar zog in die erste Etage des Hauses Uerdinger Str. 49, wo ich dann auch, allerdings erst 2,5 Jahre später, das Licht der Welt erblickte.

[I]Wie es in den alten Krefelder Färbereien Sitte war, wurde dort nur Platt gesprochen und Vater Raimund wurde dadurch bald ein Interpret seiner heimatlichen Mundart. Da er schon früh eine dichterische Ader in sich entdeckte, befasste er sich viel mit mundartlicher Poesie und wurde dadurch auch bald ein anerkannter Heimatdichter, der verschiedene Bücher in Krefelder Mundart heraugab:

„En Creveld, öm Creveld, öm Creveld eröm“
Gedichte in Krefelder Mundart, gedruckt bei Schäckermann & de Greiff

„Sprichwörter und Redensarten in Crefelder Mundart“
Zusammengestellt mit Eugen Vogelsang, verlegt bei Heinrich Halfmann

„Krefelder Wörterbuch“
ebenfalls unter Mitwirkung von Eugen Vogelsang und Prof. Buschbell, dem Direktor der Krefelder Stadtbibliothek.

Dieses Buch lag bereits fertig im Manuskript vor, wird aber nie gedruckt werden, da alle Unterlagen in der Bombennacht im Juni 1943 vernichtet wurden. Auch viele bisher noch nicht veröffentlichte Gedichte wurden damals ein Opfer der Bomben. Von den oben abgebildeten Büchern sind nur noch wenige in Privatbesitz. Nebenbei sei noch erwähnt, daß die Entwürfe zu den Einbänden vom Chronisten dieser Zeilen stammen. Es gab damals sogar einen Prozess mit einem bekannten Krefelder Maler, der den Entwurf für „En Creveld, öm Creveld, öm Creveld eröm“ gemacht haben wollte und eine Bezahlung dafür gefordert hatte. Ich konnte das aber vor Gericht anhand eines Zeichenfehlers, den ich in meinem Entwurf gemacht hatte und der genau so gedruckt worden war, entkräften.

Vaters Freundeskreis war sehr groß. Ich glaube, er hatte überhaupt keine Feinde. In der „Gesellschaft Verein“ war er Mitglied des „Kilometertisches“. Dieser Freundeskreis ist in Otto Brues Roman „Der Silberkelch“ ausführlich beschrieben worden, wenn auch die Namen mehr oder weniger verändert sind. Trotzdem sind die Charaktere so beschrieben, daß der Kenner sie gut erkennen kann. Die nachstehenden Namen aber sind die Originalnamen. Sie leben heute alle nicht mehr:

Gustav Beckers, Teilhaber der Fa. G. Beckers und Le Hanne
Gustav Biermann, Färbereibesitzer
Adolf Büschgens, Färbereibesitzer
Ernst Brües, Chefredakteur der Krefelder Zeitung
Hans Heisen, Färbereibesitzer
Franz Holstein, Rohseidenhändler
Karl Huenges, Rohseidenhandel und Zwirnerei
Gustav Holthausen, Syndikus des Färbereiverbandes (genannt: der Knuddel)
Willy Kampf, Baumwollhändler
Gustav Hermes, Färbereibesitzer
Paul Overlack, Färbereibesitzer
Gustav ter Schüren, Färbereidirektor (genannt: der Schuster)
Hans Vetter, Rohseidenhändler
Fritz Hieronymus, Apotheker

Weitere Freunde waren u.A. Carl Pieper, Direktor des städtischen Konservatoriums und die Kameraden des Offiziers-Vereins. Der große Saal in Cracauen sah die Freunde mit ihren Frauen, die wiederum mit Mutter Paula verschiedene „Kränzchen“ hatten, sehr oft bei fröhlichen Festen, zu denen in der Küche die „Kochlene“ für das Festessen verantwortlich war.

„Der Schuster“ (Gustav ter Schüren) sorgte mit für die Unterhaltung der Gäste. Er konnte viele Zauberkunststückchen, konnte aus seinem Mund heraus Eier legen oder er stibitzte allen anwesenden Herren die Taschenuhren, ohne daß diese davon etwas merkten. Dann fragte er plötzlich seinen Tischnachbarn nach der Zeit, denn er habe vergessen, seine Uhr aufzudrehen. Dieser wollte seine Uhr aus der Westentasche nehmen, aber o Schreck, keine Uhr war zu finden. Nachdem alle Herren zu ihrem Schrecken die Uhren nicht finden konnten, holte ter Schüren die Uhren aus seinen Hosentaschen.

Ein anderes Mal kam er auf einem Pferd den langen, schmalen Hausgang geritten. An der Treppe zum Saal aber kam er nicht weiter, konnte auch nicht wenden, da der Hausgang zu schmal für das Pferd war. So musste Gustav auf dem Gaul sitzend diesen rückwärts treiben, was bekanntlich Pferde nur höchst ungern tun. Auch dieses Pferd hatte ausgesprochen Angst davor, rückwärts zu müssen und infolgedessen ließ es eine Menge Roßäpfel fallen, die Mutter Paula mit Besen und Blech aufkehrte und sofort in den Garten brachte, als Dünger für die Mohrrüben.

* * * * * * * * *

Auch innerhalb der Familie kam man oft zusammen. Da mein Großvater Johannes schon vor meiner Geburt gestorben war, wurden Onkel Max und Tante Marie v. Weiler gewissermaßen Großeltern –Ersatz. Sie wohnten auf dem Alexanderplatz in einem großen, hochherrschaftlichen Haus.

Bei den Eltern meiner Mutter, den Großeltern Zohlen, versammelte sich die Familie alle 14 Tage zum Sonntagesessen und Kaffetrinken in ihrem Haus Louisenstraße 9.


Zu gleicher Zeit war auch die Familie von Mutters Schwester Martha von Auw dort, die erst in den Vereinigten Staaten gewohnt hatten, wo auch ihre drei Kinder Cläry, Elsi und Otto geboren waren. Als sie 1899 nach Krefeld zogen, wohnten sie auch auf der Uerdinger Straße 51, so daß die Cousinen und der Vetter oft im Cracauer Garten spielten.

Zohlens hatten auf der Oppumer Straße eine Gerberei, wo unter anderem auch Leder für die Soldatenhelme (Pickelhauben und Tschakos) hergestellt wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts glaubte Großvater Emil, eine großartige Erfindung gemacht zu haben: Autoreifen aus Leder! Hierzu wurde ein Daimler angeschafft, und die erste Probefahrt, zu der die ganze Familie eingeladen war, sollte nach Kloster Camp gehen. Aber ehe das Ziel erreicht war, platzten unterwegs alle 4 Reifen! Die Erfindung bewährte sich nicht und das Geld, das die Firma Zohlen hineingesteckt hatte, war verloren.

Als dann auch noch eines Tages die ganze Gerberei abbrannte, wurde sie aufgegeben und Großvater nahm den Gummireifen als Rettungsring: Er übernahm die Vertretung der Firma Michelin-Autoreifen, später auch noch Englebert, für die er bis in sein hohes Alter unermüdlich tätig war. Er starb im Jahre 1925 an dem Tag, an dem sein Urenkel Klaus von Beckerath seinen ersten selbstständigen Schritt machte.

Nach dieser Abschweifung wollen wir nach Cracauen zurückkehren und uns einmal erinnern, wie wir unsere Jugend in Cracau verlebten, was und mit wem wir in dem großen Garten spielten.