6. Kapitel

Der große Cracauer Park lockte nicht nur meinen 5 Jahre jüngeren Bruder und mich zu immer fantasievolleren Spielen, sondern auch unsere Schulfreunde und andere Gleichalterige dorthin. Mein erster Spielplatz war der Sandberg nahe an der Uerdinger Straße, wo vor allem, lange bevor ich in die Schule kam, die drei „von Auws-Kinderchen“, wie ich meine Cousinen und meinen Vetter nannte, obwohl sie mehrere Jahre älter waren, mit mir spielten, während der kleine Rudi im Kinderwagen dabeistand, von unserem Kinderfräulein Hilda Zapp betreut.

Cläry und Elsie hatten lange Korkenzieherlocken. Und jedesmal, wenn die Dampfbahn nach Uerdingen vorbeifuhr, rannte ich zum Gartentor, das Phänomen zu bestaunen.
„Puff-puff fahren mit Dampf erous!“ war damals mein größter Wunsch. Eine weitere Gespielin im Cracauer Garten war die jüngste Tochter des Hausbesitzers: Elisabeth Fegers. Ich erinnere mich noch gut, als im Jahre 1902/03 in der geplanten von-Beckerath-Straße, die den Park von der Uerdinger Straße zur Cracauerstraße durchqueren sollte, die Kanalröhren gelegt werden sollten, daß wir die schon im Park lagernden Röhren durchkrochen oder uns darin versteckten, besonders wenn wir gerufen wurden und nicht nach Hause wollten. Später dienten uns als Versteck die gefällten Bäume, die dort standen, wo die Straße hin sollte. Aber die Freude währte nicht lange, denn das Laub welkte schnell. Auf meine Frage, was mit dem Holz der Bäume geschähe, meinte der Fäller: „ Da werden Strickspönckes (Streichhölzer) von jemacht.“

Als ich Ostern 1905 auf die Vorschule kam, waren bald meine Schulfreunde ständige Gäste auf Cracauen. Mein „Intimus“ war Rudi Neitzer, Bruder der schon damals bekannten Sängerring Lilly Neitzer. Jeden Nachmittag pünktlich um 3 Uhr erschien Rudi, und wir beide bauten uns am höchsten Punkt des Gartens unter einigen Kiefern eine unterirdische Höhle. Rings darum pflanzten wir das berühmte Cracauer „Spanische Rohr“ (Riesenknöterich) an, das schon nach einem Jahr einen undurchdringlichen Dschungel um den Höhleneingang bildete. Vom Eingang bis zur eigentlichen Höhle führte ein langer, enger Gang, der nur auf allen Vieren kriechend zu bezwingen war.

In dieser Höhle haben wir unsere ersten unerlaubten Zigaretten geraucht. Mein Vater rauchte nur Zigarren aber ich hatte herausbekommen, dass er eine große Schachtel russischer Zigaretten mit Hohlmundstücken besaß, die er nie kontrollierte. Nach dem Rauchen schlichen wir uns in den Gemüsegarten und futterten tüchtig Schnittlauch und Petersilie, um damit den Rauchgeruch zu überdecken, was uns auch gut damit gelang.

Mutter Paula fiel nur auf, dass der Gutenachtkuss intensiv nach Lauch stank, aber sie meinte, das wäre gesund.
Ferner wurde die Höhle als Versteck benutzt, wenn noch andere Schulkameraden da waren und wir „Verstecken“ spielten. Die jüngste Tochter der Familie Sauer, Elly, war meist mit von der Partie. Besonders wenn wir „Räuber und Schanditz“ spielten, musste sie entweder die „Räuberbraut“ oder die geraubte Prinzessin darstellen, die in unserer Höhle schmachtete.
Dass „Verstecken“ das immer wieder gewünschte Hauptspiel war, versteht sich von selbst, wenn man die vielen herrlichen Verstecke bedenkt, die der Cracauer Garten mit seinen Büschen, Wäldchen, Hecken, Lagerräumen und Schuppen, dem Treibhaus mit seinem Keller und Söller bot. Gerade der Keller hatte seinen Reit: sollte dort der unterirdische Gang nach Burg Linn beginnen!.


Das Treibhaus bestand aus mehreren Teilen. Vom Eingang kam man zunächst in einen Vorraum, von dem die Treppe zum Söller führte, in dem die Wäsche getrocknet wurde. Außerdem gab es dort eine Falltüre zum Keller. Rechts anschließend war ein großer Raum, der im Winter zusammen mit dem Keller an den Gärtner Mommertz vermietet wurde, der dort seine Lorbeerbäume überwintern ließ. Dann bildeten diese wieder herrliche Verstecke.

Nach links schloss sich das eigentliche Treibhaus, ganz aus Glas, an. Das Glasdach wurde von Stangen getragen, die sich prima als Kletterstangen verwenden ließen. Zu Großmutter Louises Lebzeiten war das Treibhaus die Domäne des Gärtners „Jirred“ (Gerhard). Später blieb es unbenutzt und wurde deshalb von der Jugend beschlagnahmt. Der Brunnen im Treibhaus war von unseren Schiffen bevölkert, von denen sicher viele auf dem Grund liegen.

Das „Hohe Haus“ Cracau wurde deshalb so genannt, weil es oben auf der noch stehen gebliebenen Burgmauer gebaut worden war, die auf der Vorderseite noch halb durch die Zimmer ging. Hier wohnte die Familie Heinrich von Beckerath (der aussah wie Fürst Bismarck), seine Frau Helene, genannt „Tante Ninn“, der Sohn Heinrich, genannt „Heita“ und die Tochter Margarete, genannt „Jreet“.

Wir Jungen hatten keinen Respekt vor der Hecke, die die Gärten Cracauens und des Hohen Hauses trennte. Standen doch auf der Seite des Hohen Hauses drei herrliche Kirschbäume mit schwarz-roten Kirschen. Oben aber auf dem Hügel hing zwischen zwei Edelkastanien eine Schaukel an langen Leinen, mit der sich herrlich schwingen ließ.

An einem sonnigen Wintertag, der Schnee lag etwa 10 cm hoch, wollten meine Freunde und ich „Verstecken“ spielen. Hierbei schlich ich mich mit meinem Intimus Rudi Neitzer über den Grenzzaun in den Garten des Hohen Hauses. Zuerst stellten wir uns hinter die beiden Edelkastanien. Der Sucher hatte die anderen längst gefunden und suchte nach unseren Spuren im Schnee. Er hatte auch bald entdeckt, dass sie zum Nachbargarten führten. Als er nun auch über den Zaun kletterte, zogen wir uns rückwärts in die Büsche. Plötzlich rutschte ich eine kleine Böschung hinunter, dünnes Eis splitterte wie Glas, und ich lag bis unter die Arme in der Jauchegrube des Hohen Hauses, das damals noch keinen Kanalanschluss hatte.

Man stelle sich vor, nicht nur zitternd vor Kälte, sondern auch lieblich duftend kam ich zu Hause an, wo meine Mutter mich gleich ins Bad steckte, das aber zweimal erneuert werden musste, ehe der liebliche Duft nur einigermaßen verschwand.
Der neue Überzieher und mein Anzug mussten chemisch gereinigt werden.

Besonders beliebt war "Ecken verstecken", weil man dabei in Bewegung bleiben konnte. Wir spielten diese Art Verstecken um den oben dargestellten Block, der aus dem Remisengebäude mit Wohnung der Familie Passen, Waschküche, Max Passens Gravieranstalt, unserem Lagerraum, der Böttcherei von Reinhold Winters und dem Pferdestall gebildet wurde. Der Suchende musste sich anschleichen, und die zu Suchenden lauerten um die Ecken, um zu sehen, von welcher Seite der Sucher kam. Dann galt es, so schnell wie möglich die nächste Ecke zu rennen verboten waren es, sich innerhalb oder außerhalb des Blockes zu verstecken. Es war also auch „Nachlaufen“ damit verbunden, und der Sucher wurde erst dann abgelöst, wenn er einen Mitspieler eingeholt und "Abgeschlagen“ hatte.

Ein weiteres Spiel war „Paaß-op!" Hierzu wurden zwei parallele Linien gezogen in etwa 6-8 m Abstand. Hinter der einen Linie standen alle Mitspieler bis auf einen, der ausgezählt worden war. Jeder hatte einen faustgroßen Stein. Der Ausgezählte musste seinen Stein auf einen würfelförmigen Pflasterstein legen, der in der Mitte der zweiten Linie stand.
Die Mitspieler mussten nun der Reihe nach versuchen, den auf dem Pflasterstein liegenden Stein abzuwerfen. Jeder, der seinen Wurf getan hatte, durfte seinen Stein, der hinter der zweiten Linie jetzt lag, mit dem Fuß an diese Linie heran schieben. Sobald er ihn aber in die Hand genommen hatte, durfte er "abgeschlagen“ werden, falls er nicht vorher die eigene Linie wieder erreicht hatte und dadurch in Sicherheit war. Gelang es nun einem Mitspieler, den auf dem Pflasterstein liegenden Stein abzuwerfen, so musste der Besitzer diesen erst wieder auf dem Pflasterstein legen, ehe er die anderen abschlagen durfte. Gelang ihm aber ein Abschlag, so musste der Abgeschlagene seinen Platz auf dem Pflasterstein einnehmen.

Das Spiel ging weiter. Jeder Werfer kündete seinen Beruf mit einem kräftigen Spruch an: "Paaß-op, sett dich op die Nas drop!"

„Paaß-op, min Korsettstang’ is jeplatzt!“

Dieses Spiel habe ich sonst in Deutschland nie gesehen, aber als ich 1917 als Soldat in der französischen Stadt Ribemont sur Oise war, sah ich, wie die französischen Jungen genau das gleiche Spiel spielten und dabei immer laut: „Attention!“ riefen.

Spielgenossen zum „Paaß-op!“ waren Bewohner Cracauens: Hannes und Josef Sauer, Elly Sauer und Karl Passen. Hierüber aber Näheres in einem anderen Kapitel.

Wenn das Wetter beständig schön - das gab es damals noch! - war, bauten wir im Garten unsere Eisenbahn auf. Sie war zwar nicht elektrisch wie heute zumeist, dafür aber von größerer Spurweite. Die D-Zuglokomotive war allein 30 cm lang, mit Kohlenwagen sogar 45 cm. Wir hatten in der Nähe unserer Höhle eine Ideallandschaft hierfür vorbereitet, mit einem See und einer Brücke an einer schmalen Stelle und einem Berg, durch den ein Tunnel führte. Die Schienen wurden aber jeden Abend abgebaut, damit sie nicht verrosteten. Diese Maßnahme hat sich gelohnt, denn mit der gleichen Eisenbahn konnten noch meine Kinder spielen, bis sie 1945 ein Opfer des Krieges wurde. Nicht, dass sie im Bombenhagel zerstört wurde, nein, sie erwies sich noch als äußerst nützlich. Sie wurde bei einem Bauer auf dem Land, der Kinder hatte, gegen Kartoffeln getauscht, die uns vor dem Hunger bewahrten!

Im Cracauer Garten hatte die Eisenbahn ein Netz von über 50 m, wie wir es in keinem Zimmer aufbauen konnten. Aber jeweils auf der Hälfte der Runde, natürlich an einem Bahnhof, gab es einen Aufenthalt, weil dann nämlich die Uhrwerkslokomotive neu aufgedreht werden musste. In dem heißen Jahr 1911 trocknete der See vollständig aus, und wir wünschten uns sehnlichst Regen, der aber nicht kam.

Heutzutage kann man auf viel kleinerem Raum mit der elektrischen Eisenbahnen Spur H0 eine ideale Landschaft in das Zimmer bauen, wie dies jetzt meine Enkel machen, aber im Cracauer Garten war es doch schöner!

Es gab natürlich noch zahlreiche andere Spiele, zum Beispiel der Sandberg am Treibhaus. Hier spielten wir am liebsten, wenn hinter der Hecke im Garten des Hohen Hauses die Kirschen reiften! Im Sandberg wurden Tunnel gebohrt und Spiralbahnen angelegt, worauf wir kleine Bälle oder Murmeln genannt „Mörmels“ hinunter rollen ließen.

Murmelspiele gab es auch, aber nach strenger Tradition immer nur im Frühjahr. Elly Sauer wollte uns immer ihre "Hinkelspiele", wie "Himmel und Hölle" oder „Schnecke“ beibringen, aber hierzu zeigten wir wenig Lust.

Aus Amerika - von unseren Verwandten Wesendonk - kamen Modespiele wie zum Beispiel „Diabolo“. Auch bekamen wir aus der gleichen Quelle rollt Schul Hier war der glatte Zementboden der Terrasse besonders geeignet.

Ein anderes beliebtes Spiel war "Kappenball“ wozu sich die bunten Schülermützen besonders gut eigneten. Gespielt wurde mit einem Gummiball in der Größe eines Tennisballes. Die Kappen wurden in einer Reihe Innenseite nach oben an die Wand gelegt, und einer der Mitspieler, der ausgezählt war, musste den Ball so werfen, dass er möglichst in einer Mütze liegen blieb. Der Besitzer dieser Mütze musste nun so schnell wie möglich zugreifen, während die übrigen nach allen Seiten auseinander liefen. Sobald er den Ball in der Hand hielt, rief er laut "Halt!" Nun galt es, einen der Mitspieler abzuwerfen. Wenn er getroffen wurde, verlor er „ein Leben“. Traf der Werfer niemanden, verlor er selbst „ein Leben“. Zu Beginn des Spiels wurde ausgemacht, wie viel Leben jeder Mitspieler hatte, zum Beispiel fünf. Wer alle Leben verloren hatte, schied aus. Sieger blieb der zuletzt übrig bleibende, der dann zu bestimmen hatte, was anschließend gespielt wurde. Mein Bruder Rudi hatte, als er in die Schule kam, auch einen Intimus: Kurt Reinhold, der jeden Tag in Cracauen erschien. Ihr Hauptspiel war: Brunnen graben!

Ein Erlebnis gehörte auch zu den Spielen im Cracauer Garten. Und das kam so zu Stande: unser Zeichenlehrer, Meister Hildebrand, der oft mit seinen Schülern im Cracauer Garten zeichnete, hatte auch seine Kollegin vom Lyzeum, Fräulein Schulz überredet, mit ihren Schülerinnen auch nach Cracauen zu gehen.

Da Meister Hildebrand mich als talentierten Schüler empfohlen hatte, durfte ich mit dabei sein. Einige Schülerinnen kannte ich von Tennisclub her, und diese hatten in ihrer Klasse oft von dem geheimnisvollen, unterirdischen Gang gehört, der von Cracauen nach Burg Linn führen sollte. Nun wollten die jungen Damen alle den Gang sehen, was mich einigermaßen in Verlegenheit brachte. Schließlich kam ich auf den Gedanken, am Ende des dunklen Treibhauskellers einige Steine heraus zu brechen und nun konnte ich die Mädchen mit einer Taschenlampe bewaffnet, die Falltreppe den Keller hinunter führen, wo ich die ausgebrochenen Steine zeigte. Prompt versagte darauf die Taschenlaterne, und ich stand mit vor Angst zitternden, jungen Dingern in der Finsternis. Ob sie wohl heute nach 55 Jahren noch mal daran denken? Für mich aber war es ein schöner Spaß gewesen!